162. Tag: Jetzt aufhören, wo es am schönsten ist
Mittwoch, 27.09.23
Heute wandere ich auf dem GTA von der Refugio Barbara Lowrie nach Pian Melzè in die Rifugio Pian della Regina
Gestern fand ich mich im Hier und Jetzt wieder, doch heute bin ich von nachdenklicher Stimmung erfüllt. Die Gewissheit, dass mein Ziel Nizza in weniger als drei Wochen erreicht sein wird, drängt sich mir auf. Zwar hätte ich die nächsten drei Etappen in nur zwei Tagen bewältigen können, doch die Schönheit der Landschaft verbietet es mir, das Tempo zu erhöhen. Lieber lasse ich mich von ihr verzaubern und versuche, jeden Augenblick in mich aufzusaugen.
Am Colle Proussera (2198 m) erstreckt sich eine faszinierende Szenerie. Auf der einen Seite erkenne ich die Refugio, wo ich gestern ein Bier genossen habe, auf der anderen Seite erhebt sich eine monumentale, nahezu senkrechte Felswand, die von üppigem Grün gekrönt wird. Etwas weiter östlich leuchten die Blaubeerensträuchern in einem tiefen Rot. Doch das wahre Schauspiel offenbart sich mir direkt vor Augen: Das majestätische Monte Rosa Massiv, eines der imposantesten Gebirge der Alpen, und das Matterhorn, das wieder in Erscheinung tritt. Weitere Berge mit einzigartigen Formen begleiten mich, doch ich kann ihre Identität nicht ergründen. Die Berge präsentieren sich gestochen scharf, doch auf einem Foto sind sie kaum einzufangen.
In mir vereinen sich Freude über die bevorstehende Ankunft in Nizza und eine gewisse Sentimentalität, da das Ende meiner Reise näher rückt. Morgen werde ich mich direkt unter dem Monte Viso aufhalten und ihn wahrscheinlich erstmals von der Südseite aus erblicken. Dieser beeindruckende Berg hat mich schon oft aus der Ferne fasziniert, und sein Anblick markiert einen weiteren Meilenstein meiner Reise.
Je höher ich komme, desto klarer zeichnen sich die Schweizer Berge ab. Doch just in dem Moment, in dem ich dachte, es könne nicht besser werden, stehe ich am Colle della Gianna (2531 m) unvermittelt vor dem Monte Viso, ohne dass ihm ein anderer Berg in den Weg tritt. Meine Faszination erstarrt in Ehrfurcht, und ich kann in nicht länger als zwei Sekunden anschauen. Seine Schönheit ist überwältigend. Ich wage mich höher hinauf, und die Refugio von gestern, winzig und kaum wahrnehmbar im Vergleich zum gewaltigen Monterosa Massiv und den Schweizer Bergen auf der einen Seite sowie dem majestätischen Monte Viso auf der anderen Seite, verschwindet beinahe aus meiner Wahrnehmung.
Erst, als ich den Abstieg antrete, gelingt es mir, meinen Blick länger als zwei Sekunden auf den Berg zu richten. Die Aussicht ist atemberaubend. Ich entscheide mich für einen längeren Weg, in der Hoffnung auf eine noch bessere Sicht. Mir ist bewusst, dass der Pass wo der Aufstieg zum Monte Viso beginnt noch über vier, vielleicht sogar sechs Stunden Wanderung entfernt ist. Dennoch kann ich meine Augen während des Abstiegs nicht von ihm abwenden. Manchmal versuche ich sogar, direkt auf ihn zuzugehen, ohne auf den Wanderweg zu achten, als könnte ich ihn in nur wenigen Schritten erreichen – ein absurder Gedanke.
Erst, als ich das Tal erblicke, in dem ich heute Nacht verweilen werde, finde ich zurück zur Realität. Die vielen Autos und Menschen stehen im starken Kontrast zur stillen Majestät der Natur, die ich gerade erleben durfte. Als ich schließlich meine Unterkunft Rifugio Pian della Regina erreiche, habe ich das Gefühl, mich in den Voralpen zu befinden. Auf 1700 Metern über dem Meeresspiegel erstreckt sich ein breites Tal vor mir. Ich genieße ein deutsches Weizenbier in der wärmenden Nachmittagssonne und blicke immer wieder hinauf zum Monte Viso. Seine Pracht und Erhabenheit verschlägt mir beinahe den Atem. Immer wieder schaue ich hoch und schütteln den Kopf. Ich kann nicht glauben was ich sehe. Der Monte Viso übertrifft alles, was ich je zuvor gesehen habe.
Die Sonne neigt sich langsam dem Horizont entgegen, und ich denke an den „kleinen“ Monte Vozzo der auch immerhin über 3000 Meter hoch ist und auf der gegenüberliegenden Seite des Monte Viso sich befindet. Morgen werde ich versuchen, diesen Gipfel zu erklimmen, Schrittfür Schritt. Vielleicht wird mir das helfen, meine Gedanken zu ordnen. Doch heute, heute denke ich über etwas anderes nach – über das Ende meiner Reise, über den bevorstehenden Abschluss. Der Blick auf dem Monte Viso war zweifellos ein Höhepunkt, der mich sprachlos gemacht hat. Und vielleicht ist es an der Zeit, meine Reise hier, in der Nähe dieses majestätischen Berges, zu beenden. Es fühlt sich nicht falsch an. Es ist, als ob der Monte Viso das perfekte Ende wäre, ein triumphaler Abschluss meiner Reise. Der Rest wird eher keine Herausforderung mehr sein, und besser kann es nicht werden. Diese Gedanken kreisen in meinem Kopf.
Bisher gelaufende Kilometer : 2.845 km
Bisher überwundene Höhe: 124.421 Meter
68 % – geschafft Heute 1 Etappe nach Nizza gelaufen . Insgesamt 34 von 50 Etappen bewältigt.
Fotos :
Gipfel:
Karte:
Maximale Höhe: 2570 m
Minimale Höhe: 1753 m
Gesamtanstieg: 935 m
Gesamtabstieg: -947 m
Ich weiss genau, was du meinst. Ich finde den Monviso (auf okzitanisch) auch großartig.